Erster Dezember

Versteh einer diese Menschen

Von Bettina Hanke

Menschen sind merkwürdige Wesen. Ständig hecken sie etwas Neues aus, um mich bei Laune zu halten. Dabei ist es ganz einfach: Ein paar Streicheleinheiten und dann Tür auf. Mich hinaus in mein Jagdrevier lassen.
Aber nein. Sie bringen ein komisches Ding an und legen es mitten in den Flur. Es sieht ein bisschen aus wie eine Maus, aber es riecht kein bisschen nach Maus. Es stinkt fürchterlich. Es bewegt sich nicht. Ich lasse es links liegen. Und meine Menschen ziehen lange Gesichter.
Einmal steht die Terrassentür einen Spalt breit offen und ich nutze diese Gelegenheit. Ich bringe ihnen eine richtig fette Maus. Eine Maus, die noch lebt und zappelt und mit der Mensch deswegen prima spielen kann.
Und? Freuen sie sich darüber? Nein! Jasmin entdeckt die Maus als erste und rennt kreischend aus dem Wohnzimmer. Robert zerrt sich den Schuh vom linken Fuß und erschlägt damit die Maus. Dann packt er sie am Schwanz. In hohem Bogen befördert er sie hinaus in den Garten.
Dabei würde jeder normale Kater zuerst ausgiebig mit der Maus spielen. Versteh einer die Menschen!
Als nächstes schleppen meine Menschen ein Stück totes Holz an. „Das ist dein Kratzbaum!“, behauptet Jasmin. Also, ein Baum ist das nicht! Ein Baum hat eine Borke und viele Äste und man kann wunderbar darin herumklettern. Manchmal frage ich mich, wer hier der Klügere ist.
Vielleicht hat Jasmin ihren Irrtum doch bemerkt. Denn gerade trägt Robert einen richtigen Baum ins Haus. Einen verschnürten Baum, der nach Wald und frischer Luft duftet. Jasmin öffnet für Robert die Wohnzimmertür weit. Robert und der Baum bleiben fast stecken, so dick sind sie.
Robert entfernt ein paar Stricke von dem Baumpaket und ich erstarre. Wie, bitteschön, soll ich denn in diesem Baum herumklettern? Meine Enttäuschung ist grenzenlos. Da kapieren meine Menschen endlich, dass ich einen richtigen Baum brauche; und dann kommen sie ausgerechnet mit dem am wenigsten bekletterbaren Teil daher!
Missmutig beobachte ich Robert und Jasmin. Die mühen sich ab, den Baum schnurrhaargerade aufzustellen. Schief wäre bei dermaßen vielen Ästen besser. Dann könnte es mit der Besteigung vielleicht funktionieren. Aber so?
Was dann folgt, ist das Seltsamste, das ich in diesem Haus jemals erlebt habe. Und dabei wohne ich schon unendlich lange hier; bestimmt schon acht oder zehn Monate. Und trotzdem schaffen es meine Menschen immer wieder, mich mit ihren Verrückten Ideen zu überraschen.
Zuerst befestigen sie komische Stöckchen überall auf dem Baum. Robert quetscht einen Stecker in die Löchlein in der Wand. Und plötzlich leuchten die Stöckchen so hell wie diese Wachsstangen, in die ich so gerne meine krallen versenke.
Jetzt hängen sie glänzende Bälle an den Baum. Ein echter Apfelbaum wäre mir lieber. Apfelbäume sind wunderbare Kletterbäume. Aber an diesem Baum, den sie mir ins Wohnzimmer gestellt haben, ist noch nie ein Apfel gewachsen! Das garantiere ich! Menschen haben wirklich keine Ahnung!
Als sie fertig sind, hängen am Baum nicht nur die falschen Äpfel, sondern zudem steinharte Lebkuchen und seltsam verknotetes Stroh, das sie angemalt haben.
Kaum haben meine Menschen den Raum verlassen, schlecke ich an einem Lebkuchen. Igitt! Der schmeckt furchtbar! Ich streiche an den untersten Ästen entlang. Die hängen unvorstellbar tief. Aber mir gelingt es dennoch, meine Markierung an den Stamm zu setzen. Jetzt ist eines sicher: Das hier ist mein Baum!
Mit erhobenem Schwanz stolziere ich unter dem nadeligen Geäst hervor. Dabei berühre ich einen Lebkuchen und mein Schwanz fegt ihn vom Baum. Klirrend fällt er aufs Parkett und zerspringt in tausend Scherben.
Um meinen Menschen eine Freude zu machen, tue ich so, als begeistere mich der Baum. Ich schubse einen falschen Apfel an. Immer wieder. Dann einen anderen. Mein Spiel wird wilder. Bis ich mich mit der Kralle in der Schnur verhake und den gesamten Baum umreiße.
Es scheppert und klirrt und die Apfelbälle sind nicht mehr da. Aber jetzt kann ich den Baum besteigen. Ich hocke mich mitten auf das Astgewirr. Stolz blicke ich zur Tür.
Meine Menschen kommen angestürmt. Aber was ist das? Von Freude bei ihnen keine Spur. Im Gegenteil. Sie schimpfen mit mir. Warum bloß? Versteh einer diese Menschen!

Geschenktipp

Zwei Bücher hat unser Arbeitskreis gemeinsam verfasst. diese sollten unter keinem Weihnachtsbaum fehlen.

  1. Abenteuerliche Anekdoten blind erlebt ist der Titel unserer neuen Anthologie, die im Oktober 2023 im Edition Paashaas Verlag als Taschenbuch und iBook auf dem Buchmarkt erschienen ist.
  2. Farbenfrohe Dunkelheit
    ist der Titel unserer mittlerweile zwei mal preisgekrönten ersten BLAutor-Anthologie, die 2022 im Edition Paashaas Verlag als Taschenbuch und iBook erschienen ist und als Hörbuch produziert wurde und bei den Hörbüchereien für blinde Menschen ausgeliehen werden kann.

Auch auf diesem Weg bietet BLAutor seinen Mitgliedern die Möglichkeit, ein eigenes Werk auf dem Buchmarkt zu präsentieren.
Mit dem Kauf dieser beiden Anekdoten unterstützen sie die Arbeit unseres Arbeitskreises.

Und nun kommt noch ein Hinweis auf einen Adventskalender der besonderen Art:

Der Blindnerd-Adventskalender

Unser blindes Mitglied Gerhard ist blinder Hobbyastronom und das einzige blinde Mitglied der Deutschen Astronomischen Gesellschaft. Seit sieben Jahren führt er den Blog Blindnerd.de. In diesem Jahr widmet sich sein Adventskalender Frauen aus wissenschaft und Astronomie, denn Frauen sind in diesen Arbeitsfeldern bis heute unterrepräsentiert.
Der Blautor-Adventskalender und der Blindnerd-Adventskalender sind überkreuz verlinkt, so dass man von jedem aus zu den jeweiligen Türchen des anderen springen kann.
Mit
diesem Link gelangen Sie und ihr auf diesen etwas außergewöhnlichen Weihnachtskalender.