Abenteuerliche Anekdoten – Leseproben

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Abenteuerliche Anekdoten blind erlebt
Hrg. Dieter Kleffner, Insg. 20 BLAutoren
ISBN: 978-3-96174-131-1 September 2023
Paperback, Format 14,5 x 20,5 cm, 168 Seiten VK: 11,95 €
© Copyright Edition Paashaas Verlag, www.verlag-epv.de
Diese Autoren haben mitgeschrieben:
Bettina Hanke, Bodo von Rekowski, Brigitte Kemptner, Christiane Bernshausen, Daniela Preiß, David Röthle, Dieter Kleffner, Gerhard Jaworek, Hildegard Iverson, Holger Thomas Lang, Konrad Gerull, Marc Mandel, Maria Hengelman-Schlag, Maria Knoke, Melanie Joußen, Monika Lorenz, Nicole Schroll, Petra Bohn, Tamara Ströter, Thomas Löffler

Kettenreaktion

von Bettina Hanke
Hin und wieder wirft mir jemand Hochnäsigkeit vor. „Du bist unhöflich und eingebildet“ heißt es dann.
Oder: „Wie kannst du nur? Mich einfach zu ignorieren! Du hast es wohl nicht nötig, zu grüßen!“
Ja, es stimmt schon; manchmal beachte ich die eine oder den anderen nicht, behandle meine Mitmenschen wie Luft. Dies ist allerdings nicht meine Absicht. Wen ich aufgrund meines kleinen Sehrestes nicht als Person wahrnehme, dem schenke ich logischerweise keinerlei Aufmerksamkeit und erst recht keinen Gruß.
Dabei gebeich mir große Mühe, jede noch so kleine Veränderung in der mir vertrauten Umgebung zu bemerken. Habe ich den Eindruck oder auch nur ein vages Gefühl, dass da etwas anders ist als normalerweise, so rufe ich ein „Grüß Gott“ dorthin. Ich weiß nicht, wie viele Mülltonnen ich auf diese Weise schon gegrüßt habe.
Gelegentlich passieren mir jedoch auch ganz andere Missgeschicke. Solche, bei denen ich einen anderen Menschen nicht übersehe, sondern ihn in Verlegenheit bringe.
So geschah es vor Jahren, dass es an der Haustür klingelte. Ich rechnete mit der Post oder vielleicht noch irgendjemandem aus der Nachbarschaft. Stattdessen stand da eine Person mit mir unbekannter Stimme und ohne Päckchen. Der Fremde sagte nicht etwa „Die Post!“ Nein, er fragte: „Haben Sie Ihren Fernseher angemeldet?“
Vermutlich schaute ich ihn sehr schräg an, um möglichst viel von ihm zu erkennen. Denn er schob als Erklärung nach, er sei von der GEZ und überprüfe, ob alle ihre Beiträge ordnungsgemäß bezahlten.
Damals waren Menschen mit einer entsprechend schweren Sehbehinderung von der Gebühr befreit, so dass ich eben keinen Obolus entrichtete. Genau das sagte ich dem Mann auch ziemlich empört. „Ich bin doch befreit!“
Hartnäckig bestand er auf einer Überprüfung. Dabei weiß ich bis heute nicht, wie diese aussehen sollte. Beabsichtigte er etwa, sich die Kontoauszüge mit den entsprechenden Abbuchungen zeigen zu lassen?
Jedenfalls kam mir die Sache seltsam vor und ich starrte ihn kritisch an. Also hielt er mir einen Ausweis entgegen.
Der Mann konnte mir viel erzählen. Den Ausweis wollte ich mir genau ansehen. Nur, dass das für mich nicht so ganz einfach war.
Vielleicht würde ich ja etwas entziffern, wenn ich ihn mir ganz dicht vor die Augen hielt. Ob ich damit herausfand, dass wirklich alles seine Richtigkeit hatte?
Beherzt griff ich nach dem mir entgegengestreckten Rechteck und holte es mir dicht vor die Augen.
Und den Fremden gleich hinterher. Denn was ich nicht bemerkt hatte, war, dass dieser Ausweis mit einer Kette an seiner Jacke befestigt war. Der Mann landete sehr verdattert in unserem kleinen Windfang und direkt vor meiner Nase.
Damit hatte ich ihn wohl überzeugt, denn er reagierte prompt. Ohne weitere Nachweise von mir einzufordern, verabschiedete er sich eilig, verschwand aus meinem Windfang und kam nie wieder.

Wenn ein Blinder mit dem Inder

von Bodo von Rekowski
Einer meiner alten treuen Geschäftspartner und inzwischen guter Freund ist der indische Geschäftsinhaber Makhan. Er betreibt in Hamburg ein Unternehmen, das sich auf die Durchführung von De- und Remontagen sowie den Transport von übergroßen und schweren Maschinen- und Anlagenteilen spezialisiert hat. In regelmäßigen Abständen rufen wir uns an, um voneinander zu erfahren, wie es dem jeweils anderen gesundheitlich geht. Bei einem Telefonat fragte mich mein Freund Makhan, was ich denn den lieben langen Tag so tun würde. Er wusste, dass ich momentan von der Arbeit freigestellt zuhause saß und mich vielleicht langweilen könnte. „Wenn du willst, kannst du gern zu mir ins Büro kommen, mein Freund“, meinte er. „Wir können Kaffee trinken und uns ein bisschen unterhalten.“
Ich nahm die Einladung dankend an und vereinbarte mit ihm einen Tag in der Folgewoche.
„Soll ich dich holen oder bringt dich deine Frau?“
Ich erklärte, dass ich mich von meiner Frau in sein Büro bringen lassen würde.
So kam der Tag, an dem mich meine Frau zu meinem ehemaligen Geschäftspartner und Freund nach Hamburg fuhr. Wie bei den Indern üblich, war die Wiedersehensfreude groß. So wurden wir überschwänglich begrüßt. Einige Minuten später saß ich mit ihm allein in seinem Büro. Wir tranken Kaffee, aßen Kuchen und unterhielten uns über die guten alten Zeiten.
„Ach, weißt du, Bodo, wir haben viel Arbeit, bekommen aber nicht ausreichend viele qualifizierte Leute. Es könnte alles besser laufen.“
Wie immer wurde auch über meine eingetretene Blindheit und deren Konsequenzen für mich und meine Familie gesprochen. Es gab und gibt nur wenige Menschen, mit denen ich so offen über private Themen und Gefühle rede, wie ich es mit meinem alten Freund Makhan tun kann.
Auch der schönste Tag neigt sich irgendwann dem Ende.
Er tätschelte mir die Hand und sagte: „Ich werde dich gleich nach Hause bringen, mein Freund! Dann braucht deine Frau nicht extra losfahren.“
Ahnend, dass das Angebot in eine mittelschwere Katastrophe münden könnte, versuchte ich ihn umzustimmen.
„Quatsch. Das kommt überhaupt nicht in Frage! Ich fahre dich gern heim!“
Ich wusste, dass mein alter Freund genauso überschwänglich mit Händen und Füßen gestikulierend Auto fuhr, wie er seine Unterhaltungen zu führen pflegte. Dass die notwendige Konzentration auf den sich um ihn herumbewegenden Straßenverkehr häufig fehlte, war dabei für mich als gelegentlicher Beifahrer haarsträubend.
Dass es bei meinem lieben Freund auch um die Sehkraft mit seinen nun schon fast achtundsechzig Jahren nicht mehr gut bestellt war, wusste ich bis zu dieser gemeinsamen Fahrt allerdings nicht. Wir bestiegen seinen luxuriösen SUV und fuhren los. Als wir auf die Autobahn auffuhren, fielen mir seine ruckeligen Lenkbewegungen auf. Ich fragte besorgt, ob bei ihm alles in Ordnung sei.
„Na klar, Bodo. Mach dir keine Sorgen. Ich bringe dich schon sicher nach Hause“, sagte er und begann wieder mit den Händen wild fuchtelnd zu lamentieren.
Ich wurde immer nervöser. Während ich mich mit einer Hand am Haltegriff über dem Beifahrerfenster und mit der anderen am Sicherheitsgurt festkrallte, versuchte ich mir die aufkommende Unruhe nicht anmerken zu lassen. Du lieber Himmel, dachte ich, hoffentlich bin ich gleich heil zuhause.
Bis zum Autobahnkreuz Hamburg Süd lief es trotz seiner furchterregenden Lenkbewegungen recht gut. Er wechselte von der Al auf die A39 in Richtung Lüneburg. Mit einem Mal fragte er, welche Abfahrt wir nehmen müssten, um zu mir nach Hause zu kommen.
„Ich dachte, du weißt, wo ich wohne.“
„Wieso weißt du denn nicht selbst, wo du wohnst?“, kam die erstaunte Frage zurück. „Selbstverständlich weiß ich, wo ich wohne. Aber ich habe unser Haus noch nie gesehen. Ich kann dir daher auch nicht sagen, wie wir da am besten hinfahren.“ Ich wurde noch unruhiger und merkte, wie mir das Blut aus dem Kopf in die unteren Körperregionen sackte. „Ich glaube, du musst Winsen West runterfahren und dann links abbiegen.“ Ich versuchte, mich an die Strecke zu erinnern, wenn meine Frau mit mir von der Autobahn abfuhr. „Danach kommen irgendwann zwei Kreisverkehre und dann sollten wir auch schon fast da sein.“ Ich hoffte, dass er sich an meine vagen Angaben hielt. Aber bei der Hoffnung sollte es leider bleiben.
„Fahr doch mal kurz rechts ran und gib meine Adresse im Navi ein“, forderte ich ihn auf und wartete, dass er anhalten würde.
Er hielt. Allerdings nicht rechts, sondern mitten auf der Fahrbahn. Ein Hupkonzert erfolgte. Wütende Fahrer riefen uns unfreundliche Dinge zu. Wer nun denkt, dass mein alter Freund einfach die von mir genannten Adressdaten in sein Navigationsgerät eingab, denkt genauso falsch, wie ich es in der Situation tat. Makhan blätterte auf dem Bildschirm planlos in irgendwelchen Straßenregistern herum.
Ich fragte vorsichtig: „Kannst du denn meine Adresse nicht einfach eingeben?“
„Nein, ich habe meine Lesebrille im Büro liegen lassen und ohne Brille bin ich so gut wie blind.“ Ich merkte, wie ich nicht nur unruhig, sondern panisch wurde.
„Wie jetzt? Du fährst mit mir los und kannst kaum etwas sehen?“ Schlimmer konnte es ja nicht kommen. Ich war blind und mein Fahrer sah ohne Brille anscheinend genauso wenig. „Dann gib die Adresse doch über Sprachbefehl ein. Das kannst du doch sicherlich von deinem Lenkrad aus steuern.“
„Keine Ahnung – ich weiß nicht, wie das geht“, sagte er und tippte weiter auf dem Display herum. „Das kann doch nicht dein Ernst sein. Du fährst einen hunderttausend Euro Luxus-Geländewagen und kannst das Navi nicht bedienen?“
Ich nahm an, dass es für den Grad meiner Fassungslosigkeit keine Steigerung mehr geben könnte, doch wurde ich eines Besseren belehrt. Ich merkte, dass mein Fahrer immer nervöser wurde. Ich überlegte fieberhaft, wie ich den Weg nach Hause finden könnte. Seit wir hier wohnten, hatte ich den Weg noch nie selbst sehen können und war keine Hilfe.
„Fahr weiter, die Leute sammeln am Wegrand bestimmt schon Steine! Ich rufe währenddessen meine Frau an. Vielleicht kann die uns nach Hause lotsen.“
Meine Hand nestelte auf Hilfe hoffend nach dem Handy. Ich wählte die Nummer.
„Hallo, Schatz. Kannst du uns beschreiben, wo wir lang fahren müssen?“, fragte ich meine Frau. „Wie kann das denn sein? Wo seid ihr beiden denn jetzt?“
„Keine Ahnung, Makhan ist inzwischen so oft abgebogen, dass ich völlig die Orientierung verloren habe. Ich frage ihn mal.“
„Makhan, wo sind wir denn jetzt gerade?“
Sorgenvolles Ausatmen und Schnaufen war zu hören. „Weiß nicht. Ich kenn mich hier nicht aus. Du wohnst doch hier!“, kam seine Antwort gereizt zurück.
Ich gab die nächste Frage meiner Frau weiter: „Was siehst du denn links und rechts?“
„Hier sind überall nur Felder!“
„Hast du im Vorbeifahren irgendwo ein Schild oder eine von diesen gelben Hinweistafeln gesehen?“
Wieder kam eine verneinende Antwort.
„Dann fahr weiter und sag Bescheid, wenn du irgendein Schild sehen kannst.“
Ich beendete das Telefonat mit meiner besorgten Frau und versuchte den Fahrer vorsichtig daran zu erinnern, weiterhin auf Hinweisschilder zu achten. Dass er diese ohne Brille kaum entziffern
konnte, wusste ich bis dahin noch nicht. So fuhren wir kreuz und quer über die Dörfer, an einigen Bauernhöfen vorbei, bogen an irgendwelchen Kreuzungen ab, so dass ich völlig die Orientierung verlor.
Meine Frau rief erneut an und fragte: „Mit welchem Auto seid ihr unterwegs? Was für eine Farbe hat der Wagen?“
„Es ist ein schwarzer Jaguar Geländewagen“, sagte ich.
„Dann habe ich euch mindestens zweimal vorbeifahren sehen. Ich fahr jetzt los. Ich glaube, ich weiß ungefähr, wo ihr seid. Sag Makhan, dass er rechts ranfahren und warten soll. Ich fahre jetzt in die Richtung, in der ich euch vermute!“, rief sie und startete ihren Wagen.
Ich sagte zu meinem Freund: „Fahre rechts ran und bleib stehen. Meine Frau fährt gerade los und meint zu wissen, wo wir ungefähr sind.“
Resigniert hielt er an und schnaufte genervt. Einen Augenblick später hielt aus der Gegenrichtung kommend der dunkelrote VW Caddy meiner Frau. Sie rief uns zu, dass wir ihr folgen sollten.
Mein Fahrer startete seinen Wagen und machte eine halsbrecherische Wende. Tatsächlich kamen wir nach wenigen Minuten in unserer Hofeinfahrt an.
Mein Freund und ich waren die ganze Zeit in Sichtweite unseres Wohnortes herumgekurvt, ohne das nahe Ziel zu bemerken.
Die Freude bei meinem alten Freund war groß, als er meine Frau überschwänglich und erleichtert umarmte. Er versuchte seine mangelnden Ortskenntnisse zu entschuldigen. „Bei euch sind sehr viele Straßen, Felder und Bauernhöfe.“
„Wieso viele Straßen?“, fragte meine Frau lachend. „Wir haben nur eine einzige Straße, die hier durch unser Dörfchen führt.“
Ich war froh, endlich heil zuhause angekommen zu sein. Meine Frau setzte sich in Makhans Wagen und gab dessen eigene Adresse in sein Navi ein. Er drückte uns zum Abschied herzlich, stieg erleichtert in seinen Wagen und winkte uns lächelnd zu.
„Was für eine verrückte Fahrt“, sagte ich zu meiner Frau. Wir winkten meinem Freund hinterher. „Tja, mein Lieber, du weißt schon, dass er unter diesen Umständen nicht mehr fahren dürfte?“ „Ich weiß, aber ich kann mich auch erinnern, dass ich selbst mit geringer Sehkraft gefahren bin, obwohl ich längst nicht mehr hätte fahren dürfen.“
Noch heute lachen mein Freund und ich über diese leichtsinnige und durchaus gefährliche Geschichte.
Er antwortet dann immer lächelnd: „Tja, wenn ein Blinder mit dem Inder …!“