(Veröffentlichung im Rahmen des Projekts "Meine Stadt schreibt ein Buch)"
Es konnte wohl nur Pädagoginnen und Pädagogen passieren, dass sie sich bei der
Alternative Wangerooge und trotz zahlreicher Argumente für die Nordseeinsel am Ende doch
für Königswinter entschieden, eine Stadt, deren größte touristische Attraktion ein
Berg darstellte, der nicht mal besonders hoch war. Sein Elternhaus in der Eifel stand
höher. Ihm war das alles aber eigentlich sowieso egal. Wenn es nach ihm gegangen wäre,
hätten sie überhaupt keine Seminarfahrt machen müssen. Er fühlte sich in fremder
Umgebung nicht wohl und so war er froh, wenigstens ein Einzelzimmer bekommen zu haben, in
das er sich bei Bedarf zurückziehen konnte. Jetzt, am Abend des Ankunftstages, saß er
mit einem Bier etwas abseits von den anderen Lehramtsanwärtern im Gemeinschaftsraum ihrer
Unterkunft und ließ den Blick schweifen. Manche sahen selbst noch wie Schüler aus und er
fragte sich, wie diese als Lehrer ernst genommen werden konnten, erst recht, wenn sie vor
der Klasse auch noch einen auf Kumpel machten. Andere wiederum übertrieben es mit der
Lehrerrolle. Kleidung, Mimik und Gestik, Wortwahl: Nichts überließen sie dem Zufall. Sie
stellten den vermeintlich perfekten Lehrer dar, aber von ihrer wahren Persönlichkeit
durften die Schüler nichts erfahren. Und da war Nora. Er nannte sie die rote Nora wegen
ihrer feuerrot gefärbten Haare. Sein Herz schlug jedes Mal schneller, wenn er sie sah.
Nora war cool, selbstbewusst und sportlich, trug hipe, ihre perfekte Figur betonende
Kleidung und sie hatte ein dezent geschminktes, wunderschönes Gesicht. Aber so anziehend
sie war, so unerreichbar war sie für ihn. Da hatte der Muskelprotz, der neben ihr saß,
bedeutend bessere Chancen. Thomas hieß der, glaubte er.
Er trank den letzten Schluck Bier und verließ den Raum. Sein Weg führte ihn aber
nicht direkt in sein Zimmer, sondern erst noch vor die Tür zum Rauchen. Etwa Zwei Minuten
hatte er dort gestanden, da hörte er hinter sich das Klacken von Stöckelschuhen und als
er sich umwandte, stand da die rote Nora und kramte eine Zigarette hervor. "Hast du
mal Feuer?" Das war an sich eine ganz normale Frage, aber augenblicklich wurde er
knallrot im Gesicht und war erst einmal nicht in der Lage, irgendetwas anderes zu tun als
sie anzustarren.
"Guck nicht so. Du hast wohl gedacht, so eine Sportskanone wie ich raucht nicht, aber
ich will dir mal was sagen: Ich rauch nicht nur, ich hab eben auch Alkohol
getrunken." Das stimmte. Es war offensichtlich, dass sie was getrunken hatte, aber
besoffen war sie nicht, nur ziemlich angeheitert. "Was ist jetzt? Gibst du mir nun
Feuer oder nicht?" Er gab ihr Feuer, mit zitternden Fingern. Sie nahm einen tiefen
Zug. Dann sagte sie: "Boah ich hatte keinen Bock mehr auf das Gelaber da drinnen,
aber pennen will ich auch noch nicht. Und du? Bist du müde?"
"Geht", erwiderte er.
"Hast du Lust auf 'ne Nachtwanderung?" Nein, er hatte keine Lust auf eine
Nachtwanderung, aber er hatte Lust auf Nora und wenn Nachtwanderung bedeutete, dass er
Nora nah sein konnte - "Och ja", brachte er schließlich hervor.
"OK, in zehn Minuten hier", sagte sie kurz entschlossen, drückte die Zigarette
im Aschenbecher neben der Eingangstür aus und verschwand im Haus.
Als Nora nach einer gefühlten Ewigkeit zurück kam, trug sie Turnschuhe und eine
gewöhnliche Jeans. Ihren Oberkörper verhüllte blickdicht eine dicke Jacke. Es war kalt
an diesem Abend im März. "Taschenlampe hab ich keine, aber iPhone geht auch. Hast du
auch dein Handy am Start?"
"Ja."
"Gut, gehen wir." Sie gingen und wenige Minuten später standen sie vor dem
massiv aufragenden Drachenfels. "Da hoch", befahl Nora. Instinktiv schüttelte
er den Kopf.
"Bitte", sagte sie und sah ihm flehend in die Augen. "Tu's für mich."
Er schüttelte abermals den Kopf und diesmal brachte er sogar ein heiseres
"Nein" hervor.
"Komm schon. Du kriegst auch eine Belohnung", und ehe er sich versah, nahm sie
ihn in die Arme und küsste ihn mit leicht geöffneten Lippen auf den Mund; nur ganz kurz,
aber es war wie das Anreißen eines Streichholzes, das ein Feuer in ihm entfachte, und das
Feuer brachte sein Blut in Wallung und seine Beine setzten sich wie Kolben einer Dampflok
in Bewegung und er ging schnaufend und stampfend den Berg hinauf. Doch mit der Zeit gewann
ein Gedanke die Oberhand, der den Heizer am Nachlegen der Kohlen hinderte, und dieser
Gedanke war: "Was machst du hier eigentlich?" Ja, was machte er hier eigentlich?
Zum Affen machte er sich. Sie spielte doch nur mit ihm oder glaubte er im Ernst, dass sie
was von ihm wollte? Nein, glaubte er nicht. Er hatte nicht die geringste Chance bei ihr.
Je mehr er so dachte, desto mehr spürte er die Erschöpfung und verlangsamte das Tempo,
aber er ging tapfer immer weiter. Wenn er umkehrte, machte er sich doch erst recht zum
Affen. Sie hielt ihn für eine Lusche und würde er umkehren, käme das einem endgültigen
Eingeständnis gleich, dass sie recht hatte.
Als sie beim Schloss ankamen, hatte Nora, die zeitweise mehrere Meter vor ihm gegangen
war, Erbarmen mit ihm und sie machten eine Pause. Aus ihrer Jacke holte sie einen
Flachmann und nahm daraus einen ordentlichen Schluck. Dann reichte sie ihm das
Fläschchen. Er nahm es dankend an, denn, obwohl er sich eben noch sehr verausgabt hatte,
wurde ihm, als er jetzt so still dastand, doch langsam kalt und der Schnaps versprach
innere Wärme.
"Weiter geht's", sagte sie, nachdem sie sich eine Weile mit ihrem iPhone
beschäftigt hatte. Da der Rest des so genannten Eselsweges gesperrt war, führte sie ihn
nach links über einen Feldweg, bis sie zu einer Straße gelangten, auf der sie den
Aufstieg fortsetzen konnten. Als sie endlich auf dem Plateau angekommen waren, standen sie
eine Weile nur da und ließen ihren Puls und Atem etwas zur Ruhe kommen. Schließlich
fragte er: "Und jetzt?"
"Jetzt gehen wir wieder runter", sagte sie und lächelte ihn verschlagen an.
Dann: "Ach ja, du willst deine Belohnung haben, hm? Na komm her." Und wieder
nahm sie ihn in die Arme und küsste ihn, aber diesmal länger und - er konnte es kaum
glauben - mit Zunge. Erregt erwiderte er ihre feuchten Liebkosungen. Plötzlich zog sie
sich abrupt zurück: "Mehr gibt es, wenn wir wieder unten sind." Von eben dort
näherten sich nun Lichtpunkte und die Luft wurde zunehmend von hämmernden Technobässen
erfüllt. Das Auto hielt direkt neben ihnen und jetzt sah er, wer am Steuer saß: Es war
dieser Thomas. Thomas stieg aus und Nora begrüßte ihn mit einem Küsschen. Dann stieg er
wieder ein und Nora nahm auf dem Beifahrersitz Platz. "Was ist mit dir? Willst du
nicht mitfahren?", rief Nora dem verwirrten jungen Mann zu, der überhaupt nicht
begriff, was da gerade abging. Aber was sollte er machen? Wenn er nicht den ganzen Weg
zurück laufen wollte, musste auch er sich ins Auto setzen, was er schließlich auch tat.
In der Unterkunft angekommen, ging er sofort in sein Zimmer, wo er sich aufs Bett warf und bitterlich weinte. Eine unbestimmte Zeitspanne lag er so da. Dann raffte er sich plötzlich auf, entkleidete sich, zog seinen Schlafanzug an, ging zur Toilette und putzte sich die Zähne. Wieder im Bett, lauschte er. Kein Laut war zu hören, aber er war sich sicher, dass Nora und Thomas es gerade irgendwo im Haus heftig miteinander trieben, und unter ihr Stöhnen mischte sich immer wieder ein hämisches Lachen und der Satz "Den haben wir so richtig verarscht".
Da, war das nicht ein Klopfen? - Da, schon wieder, diesmal lauter. Dann wurde die Tür leise geöffnet und das Licht eingeschaltet. Im Zimmer stand Nora, barfuß und mit Schlafanzug. "Rück mal 'n Stück", sagte sie, und schon im nächsten Augenblick schmiegte sie ihren warmen Körper an seinen und küsste ihn leidenschaftlich. "Ich hab noch ein Versprechen einzulösen", säuselte sie, "aber ich hab irgendwie nicht den Eindruck, dass du mich noch erwartet hast. Du warst doch nicht etwa eifersüchtig auf den Tommy?" Als er nicht reagierte, brach sie in schallendes Gelächter aus: "Du warst echt eifersüchtig auf den Tommy! Geil! Tommy ist mein Bruder! Du bist so ein Dummerchen." Wieder küsste sie ihn innig. "Also was ist jetzt? Willst du mich noch oder ist dein kleiner Freund schon schlafen gegangen?" Sie berührte mit einer Hand durch die Schlafanzughose seinen erigierten Penis und begann ihn sanft zu massieren. "Nein, ist er nicht. Das ist gut. Ich bin nämlich verdammt heiß. Zieh mich aus", hauchte sie dann. Höchste Zeit, uns aus der Geschichte auszublenden.
(c) Simon Kuhlmann / Königswinter
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